Die genetische Ursache der spinalen Muskelatrophie (SMA) ist eine Veränderung der Erbsubstanz, eine sogenannte Mutation. Diese kann über Generationen hinweg unbemerkt weitegegeben werden, ohne zur Erkrankung zu führen. Erst wenn beide Elternteile ein mutiertes Gen weitervererben, kann die spinale Muskelatrophie auftreten.
Bei etwa 95-98 % der SMA Betroffenen befindet sich die Mutation im SMN1-Gen und kann mittels (molekulargenetischer) Blutuntersuchung diagnostiziert werden. Diese Untersuchung bezeichnet man als Test auf Deletion/Mutation des SMN-Gens. In der gleichen Untersuchung kann auch die Anzahl an Kopien des verwandten SMN2-Gens bestimmt werden. Die Anzahl der Kopien des SMN2-Gens können den Krankheitsverlauf der SMA positiv beeinflussen und lassen daher einen Rückschluss auf den Schweregrad der Erkrankung zu.2
Eine Liste häufig verwendeter Begriffe finden Sie hier.
Medizinische Detektivarbeit
Die Diagnosestellung kann medizinische Detektivarbeit sein. Die initiale Diagnose erfolgt oft verzögert, weil jeder Betroffene die Symptome in einem anderen Alter und in unterschiedlichem Ausmass entwickelt.5 Eine Befragung von Eltern und Ärzten ergab, dass das Erkennen der Symptome und die Diagnosestellung mehrere Besuche beim Kinderarzt und bei anderen Fachärzten erfordern.6-8
Im Falle eines Verdachts auf SMA können weitere diagnostische Untersuchungen erfolgen, darunter genetische Untersuchungen, eine Elektromyografie und Blutuntersuchungen zur Bestimmung des Kreatinkinase-Spiegels, einem Enzym, das in geschädigten Muskeln erhöht ist. Im Gegensatz zu einer molekulargenetischen Blutuntersuchung kann die Diagnose der spinalen Muskelatrophie mit diesen Tests nicht eindeutig bestätigt werden. Allerdings lassen sich damit andere Muskelerkrankungen ausschliessen.3 Auch jugendliche oder erwachsene Betroffene besuchen oftmals mehrere Ärzte und erhalten erst nach vielen Jahren der Ungewissheit die richtige Diagnose.
Symptome
Jeder Betroffene kann andere Symptome entwickeln. Die Erkrankung wird je nach Alter bei dem sich die ersten Symptome zeigen (Manifestationsalter) und erreichten motorischen Fähigkeiten in verschiedene Typen unterteilt. Ausserdem kann jeder SMA-Typ in verschiedenen Schweregraden auftreten. Bis zu 25 % der Betroffenen können keinem Typ eindeutig zugeteilt werden.3 Somit sind die Übergänge zwischen den Typen fliessend.
Erkrankungen, die SMA ähneln
Es gibt andere Erkrankungen, die der spinalen Muskelatrophie ähneln, aber andere genetische Ursachen haben. Zu diesen Erkrankungen zählen:
Spinale Muskelatrophie mit Atemnot (SMARD)
SMARD zeichnet sich durch ähnliche Symptome wie die infantile spinale Muskelatrophie aus, betrifft jedoch die Nervenzellen des oberen Rückenmarks und nicht die unteren motorischen Nervenzellen. Kinder mit SMARD haben normalerweise ein niedriges Geburtsgewicht und entwickeln erste Symptome zwischen dem 3. und 6. Lebensmonat, z.B. schwere Atemnot aufgrund der Lähmung des Zwerchfells.8
Distale hereditäre Motoneuropathie (gelegentlich als SMA Typ V bezeichnet)
Die distale hereditäre motorische Neuropathie ist eine extrem seltene, autosomal dominante, genetische Erkrankung. Dies bedeutet, dass nur eine Kopie des mutierten Gens vererbt werden muss, damit die Erkrankung auftritt. Die distale hereditäre Motoneuropathie betrifft die Nervenzellen im Rückenmark. Sie zeichnet sich durch Schwäche und Muskelschwund aus, die in den oberen und unteren Extremitäten beginnen und sich später auf andere Muskeln ausbreiten.9-11
Spinobulbäre Muskelatrophie Typ Kennedy (Kennedy-Krankheit)
Anders als die spinale Muskelatrophie, bei der die motorischen Nervenzellen betroffen sind, betrifft die Kennedy-Krankheit sowohl die unteren motorischen als auch die sensorischen Nervenzellen. Sie tritt nur bei Männern auf. Die Kennedy-Krankheit ist eine Erkrankung des X-Chromosoms, die etwa 1 von 40.000 Männern betrifft.12
Manifestationsalter
Die spinale Muskelatrophie wird meist zuerst von einem Elternteil bemerkt, dem auffällt, dass sein Kind bestimmte Meilensteine nicht erreicht
Eltern können beobachten, dass ihr Kind altersgemässe Meilensteine der körperlichen Funktionen nicht erreicht, zum Beispiel die Fähigkeit, den Kopf anzuheben, sich von einer auf die andere Seite zu rollen oder frei zu sitzen. Auch das Schlucken oder die Nahrungsaufnahme kann mit Schwierigkeiten verbunden sein und die Kinder können die Fähigkeit verlieren, sicher zu schlucken, so dass Nahrung in die Lungen gelangen kann (Aspiration).9,13
Wenngleich sich jedes Baby nach seinem eigenen Rhythmus entwickelt, existieren seitens der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Richtlinien zu den Meilensteinen der motorischen Entwicklung.14
Bei Jugendlichen oder Erwachsenen stellt entweder der Betroffene selbst oder sein Umfeld eine zunehmende Schwäche im Alltag fest
Gerade bei der später einsetzenden SMA treten die Symptome und Einschränkungen eher schleichend auf und fallen den Betroffenen nur bedingt auf. Oftmals werden Bewegungen, die schwer fallen, umgangen oder durch andere Bewegungsabläufe und Abstützen kompensiert.
Eine zunehmende Muskelschwäche, gerade in den Oberschenkeln und Armen, könnte ein erster Hinweis auf eine SMA Erkrankung sein und sollte am besten in einem neuromuskulären Zentrum abgeklärt werden.
Die Diagnostik-Initiative für Spinale Muskelatrophie (SMA) ermöglicht mittels eines einfachen Trockenbluttests, den genetischen Defekt im SMN1-Gen aus nur einem Tropfen Kapillarblut zu bestimmen. Sprechen Sie Ihren Arzt darauf an.
Referenzen
1. Lunn MR, Wang CH. Spinal muscular atrophy. Lancet. 2008;371(9630):2120-2133. 2. Wang CH, et al. Consensus statement for standard of care in spinal muscular atrophy. J Child Neurol. 2007;22(8):1027-1049. 3. National Institute of Neurological Disorders and Stroke. Motor Neuron Disease Fact Sheet. 2012. Available at: https://www.ninds.nih.gov/Disorders/Patient-Caregiver-Education/Fact-Sheets/Motor-Neuron-Diseases-Fact-Sheet. Letzter Zugriff: Sept. 2020. 4. Genetics Home Reference. SMN1 gene. 2012. Available at: https://ghr.nlm.nih.gov/gene/SMN1. Letzter Zugriff: Sept. 2020. 5. Genetics Home Reference. SMN2 gene. 2012. Available at: https://ghr.nlm.nih.gov/gene/SMN2. Letzter Zugriff: Sept. 2020. 6. Jones et al. Systematic review of incidence and prevalence of spinal muscular atrophy (SMA). European Journal of Paediatric Neurology. 2015;19(supp. 1):S64–S65. 7. Finkel R, et al. 209th ENMC International Workshop: Outcome Measures and Clinical Trial Readiness in Spinal Muscular Atrophy 7-9 November 2014, Heemskerk, The Netherlands. Neuromuscul Disord. 2015;25(7):593-602. 8. Cure SMA. School. https://curesma.wpengine.com/teens-and-adults/ Letzter Zugriff: Sept. 2020. 9. National Organization for Rare Disorders. Werdnig-Hoffman Disease. 2012. Available at: https://rarediseases.org/rare-diseases/werdnig-hoffmann-disease/. Letzter Zugriff:Sept. 2020. 10. Iannaccone ST. Modern management of spinal muscular atrophy. J Child Neurol . 2007;22(8):974-978. 11. Cure SMA. Types of SMA. https://www.curesma.org/types-of-sma/ Letzter Zugriff: Sept. 2020. 12. Cherry JJ, et al. Identification of novel compounds that increase SMN protein levels using an improved SMN2 reporter cell assay. J Biomol Screen. 2012;17(4):481-495. 13. Darras BT, Royden Jones H Jr, Ryan MM, De Vivo DC, eds. Neuromuscular Disorders of Infancy, Childhood, and Adolescence: A Clinician’s Approach. 2nd Ed. London, UK: Elsevier; 2015. 14. Prior TW. Perspectives and diagnostic considerations in spinal muscular atrophy. Genet Med. 2010;12(3):145-152. 15. TREAT-NMD. Diagnostic testing and care of new SMA patients. Available at: http://www.treat-nmd.eu/downloads/file/standardsofcare/sma/english/sma_soc_en.pdf. Letzter Zugriff: Sept. 2020. 16. National Organization for Rare Disorders. Spinal Muscular Atrophy. 2012. Available at: https://rarediseases.org/rare-diseases/#causes. Letzter Zugriff: Sept. 2020. 17. Quest Diagnostics. SMA Carrier Screen. 2013. Available at: http://www.questdiagnostics.com/testcenter/testguide.action%3Fdc%3DTS_SMA. Letzter Zugriff: Sept. 2020. 18. Arkblad E, et al. A population-based study of genotypic and phenotypic variability in children with spinal muscular atrophy. Acta Paediatr. 2009;98(5):865-872. 19. Jedrzejowska M, et al. Incidence of spinal muscular atrophy in Poland--more frequent than predicted? Neuroepidemiology. 2010;34(3):152-157. 20. Prior TW. Spinal muscular atrophy: a time for screening. Curr Opin Pediatr. 2010;22(6):696-702. 21. Sugarman EA, et al. Pan-ethnic carrier screening and prenatal diagnosis for spinal muscular atrophy: clinical laboratory analysis of >72,400 specimens. Eur J Hum Genet. 2012 Jan;20(1):27-32. 22. Ogino S, Wilson RB. Spinal muscular atrophy: molecular genetics and diagnostics. Expert Rev Mol Diagn. 2004 Jan;4(1):15-29. 23. Norwood et al, Prevalence of genetic muscle disease in Northern England. Brain. 2009;132(Pt 11):3175-86.